Wochenlang haben wir aus der Türkei immer wieder Bilder von brutalen Polizeieinsätzen mit Wasserwerfern und Tränengaswolken gesehen, vor allem vom Taksim-Platz in Istanbul. Zwischenzeitlich beschimpfte Ministerpräsident Erdogan die Demonstrierenden als „Terroristen“ und drohte mit der Armee.
Anlass für die Proteste war ursprünglich der Gezi-Park in Istanbul, der einer Kaserne weichen soll. Doch es geht schon längst um viel mehr. Es geht um die Demokratie in der Türkei, die von einem islamistischen System à la Erdogan bedroht ist.
Auch eine neue Protestform ist in der Türkei mittlerweile entstanden: der „durun adam“, der „stehende Mann“.
Mitte Juni war die ethecon-Aktivistin Marina Küpper (manchen von der ethecon Tagung 2011 bekannt) in der Türkei, wo auch sie dem Tränengas ausgesetzt war und zwischenzeitlich Todesängste ausstehen musste. Hier ihr Bericht aus dem Gezi-Park in Istanbul:
Als Teil einer europäischen Delegation reiste ich mit einem weiteren SDAJler vergangene Woche für ein Wochenende nach Istanbul. Als Beobachterdelegation wollten wir uns selbst ein Bild von der Protestbewegung machen und die Gelegenheit nutzen, um uns sowohl mit GenossInnen vor Ort, als auch mit anderen aktiven Kräften in der Bewegung auszutauschen. Wir führten Gespräche mit der Gewerkschaft, dem oppositionellen Sender Hayat TV und besuchten die Streikenden der Hava Is-Gewerkschaft. Vornehmlich aber verbrachten wir viel Zeit im Gezi-Park. Dieser Ort, an dem die Proteste ihren Anfang fanden, hatte sich von einem einfachen öffentlichen Park in einen Ort der Solidarität und des organisierten Widerstands verwandelt. Kurden lebten hier neben Türken, Nationalisten neben Sozialisten, viele der Besetzer des Gezi Parks waren vorher noch nie auf einer Demonstration gewesen. Auffällig ist das junge Alter der Demonstranten, die ihre kleine eigene Gesellschaft vollkommen selbst verwalten. 90% sind zwischen 19 und 30 Jahre alt. Die Prämisse: Niemand muss hier für die Dinge zahlen, die er zum täglichen Leben braucht – egal, ob es sich dabei um Lebensmittel, Kleidung oder Zigaretten handelt. Unermüdlich kümmern sich die Menschen um ihren Park. Direkt nach der ersten Führung nach unserer Ankunft Samstag Morgen um 5.30 Uhr sind wir schon vollkommen überwältigt. Selbstverständlich sind der Park und die mit ihm einhergehenden Proteste ein Dorn im Auge des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan. Jedem im Park ist klar, dass es in diesem Kampf nicht nur um ein paar Bäume geht, die nicht abgeholzt werden sollen. Hier führen Menschen einen Kampf gegen eine Regierung, die sie seit Jahren unterdrückt und zur Unmündigkeit erzieht. Jeden Tag aufs Neue müssen die Protestierenden den Park verteidigen. Fünf Tote werden bisher beziffert; für sie gibt es ein Denkmal aus Holzlatten an einer zentralen Stelle im Park: „Taksim gehört dem Volk“ steht dort geschrieben.
Am eigenen Leib erfuhren wir dann am Samstagabend die Räumung des Gezi Parks. Was wir am Tag zuvor noch als Mittelpunkt solidarischen Miteinanders erlebten, wurde zumindest augenscheinlich innerhalb weniger Stunden dem Erdboden gleich gemacht. Plötzlich bestand der Park aus einer einzigen CS-Gas Wolke und tausende von Menschen wurden wie Vieh erst aus dem Park und letztendlich durch die Straßen Taksims getrieben. Immer wieder mussten wir den Gaspatronen ausweichen, die oft nur einen Meter neben uns zu Boden gingen. Doch mit dieser Machtdemonstration Erdogans machte selbiger einen großen Fehler. Das türkische Volk und vor allem die Jugend wollen sich nicht mehr beugen und fordern an diesem Abend lautstark wie auch schon in den Wochen zuvor den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Dass die akuteste Gefahr für die Besetzer des Gezi Parks die von der Regierung gesteuerte Polizei ist, wurde an diesem Abend nur allzu deutlich. Noch an demselben Morgen erklärte der Vorsitzende der KESK-Gewerkschaft (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter) Lami Özgen: „Wir bezeichnen die Polizei-Angriffe nicht als solche. Für uns ist das Staatsterror.“ Auch sie solidarisieren sich neben ihren eigenen gewerkschaftlichen Forderungen ausnahmslos mit denen des Taksim-Solidaritätskomitees. Lami Özgen: „Einige dieser Forderungen sind Forderungen, die das gesamte Volk betreffen und eine Möglichkeit, um gegen die antidemokratische Politik der Regierung zu kämpfen.“ Auf die Frage hin, was wir als Delegation und Aktive in unseren Ländern tun können, um die Proteste zu unterstützen, antwortet er: „Wir sehen die starke Verbindung zwischen der türkischen Regierungen und denen der anderen europäischen Länder und wir sind uns bewusst, dass sie aufgrund ökonomischer Interessen unsere demokratischen Rechte behindern. Was ihr tun könnt: Berichtet von der starken Opposition, der sich die türkische Regierung gerade stellen muss, macht mit bei den Solidaritätsbewegungen und Streiks in euren Ländern, übt Druck auf eure eigene Regierung aus. Wenn auch nicht im Weltmaßstab, so sollten wir doch in der Lage sein, die Proteste zumindest im europäischen Maßstab zu verknüpfen. Wenn die anderen europäischen Länder sich aufgrund ökonomischer Interessen gegenseitig verknüpfen, dann sollten wir das erst recht!“
Sicher ist: Die Proteste in der Türkei werden so bald nicht enden – im Gegenteil: Täglich gehen mehr und mehr Menschen auf die Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen. Die KESK und die DISK haben mittlerweile einen Generalstreik ausgerufen, in den einzelnen Stadtteilen Istanbul weiten sich die Demonstrationen immer weiter aus. Die Demonstranten rufen es immer wieder auf den Straßen und scheinen recht zu behalten: Bu daha baslangiç, mücadeleye devam! – Dies ist nur der Anfang, wir werden weiter kämpfen.