Neue Solidarität über ethecon-Preisverleihung an Jean Ziegler

„Ein Kind, das verhungert, wird ermordet!“

Jean Ziegler, der ehemalige Berichterstatter der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf Nahrung, sprach in Berlin anläßlich der Verleihung des Blue Planet Awards klare Worte.

Alle fünf Minuten stirbt ein Kind, jeden Tag sterben 23.000 Menschen an Hunger. Hunger ist die bei weitem häufigste Todesursache, obwohl die heutige Landwirtschaft, anders als vor 100 Jahren, 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Hier liegt kein objektiver Mangel vor: ein Kind, das verhungert, wird ermordet.

Mit diesen Bemerkungen begann Jean Ziegler, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, seine Dankesrede anläßlich der Verleihung des Blue Planet Awards am 17. November in Berlin. Es folgt ein Bericht über die ungewöhnlich kämpferische Rede eines ungewöhnlich kämpferischen Mannes.

Weniger als zehn Konzerne kontrollieren weltweit 85% der Nahrungsmittel. Das Interesse solcher Konzerne ist nicht die Bekämpfung von Hunger, sondern die Maximierung des Unternehmenswertes – Jean Ziegler nennt das „strukturelle Gewalt”, weil der Hunger quasi als Nebenprodukt des Geschäftsmodells entsteht. Wenn die EU durch Subvention von Agrarexporten in beinahe alle afrikanischen Staaten die Landwirtschaft in diesen Ländern zerstört und zeitgleich regelmäßig Tausende von Armutsflüchtlingen vor ihren Grenzen zurückweist, offenbart das, so Ziegler, absolut tiefen Zynismus. Dabei sind Landwirte in Afrika genau so produktiv wie ihre Kollegen in Europa, wie auch Lyndon LaRouche sehr oft bemerkte: es fehlen jedoch Investitionen in Infrastruktur, Landmaschinen und Düngemittel. Ein Hektar Land in der Sahelzone produziert daher in normalen Zeiten, wenn keine Trockenheit herrscht, etwa 500-600 kg Getreide, während 1 ha Land in Frankreich 10.000 kg erbringt. Wenn mit der Landwirtschaft in afrikanischen Ländern überhaupt Gewinn gemacht wird, dann werden damit Schulden bezahlt. Für Investitionen bleibt da nichts übrig.

Ziegler berichtet, er sei in Norwegen auf saudi-arabische Kartoffeln aufmerksam gemacht worden. Man könne sie im Supermarkt kaufen. Das kann nicht sein, meint Ziegler. Man geht der Sache nach und findet heraus: 550.000 ha Land entlang des Nils in Äthiopien wurden von Saudi-Arabien gekauft. Die Einwohner wurden vertrieben und Wanderarbeiter aus Sri Lanka dorthin gebracht, die nun Rosen und Kartoffeln anbauen. Diese werden exportiert, und zwar dorthin, wo Kaufkraft ist. Die berüchtigten Strukturreformen und Anpassungsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds, bemerkte Ziegler, führen in den meisten Fällen ebenfalls zur Vergrößerung der Exportflächen der betroffenen Länder.

Massenmord durch Spekulation

1,2 Mrd. Menschen sind der Weltbank zufolge „extrem arm”. Sie haben täglich weniger als 1$ zur Verfügung. Mit Beginn der internationalen Finanzkrise sind die Akteure der Finanzmärkte auf die Nahrungsmittelmärkte „umgestiegen”, wo inzwischen astronomische Gewinne gemacht werden. Die Preisanstiege bei Getreide in den ersten acht Monaten diesen Jahres, am Chicagoer Markt zum Beispiel, waren extrem. Für viele Millionen der ärmsten Menschen werden Nahrungsmittel einfach unerschwinglich. Einer vorsichtigen Schätzung zufolge sind allein in diesem Jahr 162 Millionen Menschen an Hunger gestorben. Das alles ist völlig legal. Ziegler nahm kein Blatt vor den Mund: Unter dem Nationalsozialismus und während des zweiten Weltkrieges habe es sechs Jahre gedauert, bis etwa 56 Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten. Das heutige System mache ein Vielfaches davon in weniger als einem Jahr möglich!

Während dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen 2008 noch 6 Mrd. $ zur Verfügung standen, sind es 2012 nur noch 2,8 Mrd. $, weil viele der gebenden Staaten Unsummen zur Rettung des Bankensystems einsetzten. Und wieder war Ziegler deutlich: „Hier töten die Spekulanten ein zweites Mal!”

Das gleiche gilt für die sogenannten Biotreibstoffe, also das Verbrennen von Nahrungsmitteln. Die 325 kg Mais, die es braucht, um den Tank eines Autos zu füllen, könnten ein Kind ein ganzes Jahr lang ernähren. „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!”

Schließlich malte Jean Ziegler dem Publikum deutlich aus, was dieses Wort bedeutet, an das man sich während so vieler Jahrzehnte schon gewöhnt zu haben scheint: Hungertod. Drei Minuten kann jeder Mensch ohne Atemluft überstehen, ohne ernsthafte Schäden davonzutragen. Drei Tage schafft er es ohne Wasser; drei Wochen lang ohne zu essen. Dann folgen Lethargie, der Zusammenbruch des Immunsystems, blutiger, extrem schmerzhafter Durchfall, der Abbau der Muskeln durch den Körper, der sich verzweifelt zu erhalten sucht. Dann folgt der Tod. An Hunger zu sterben, so Ziegler, ist eine der schlimmsten Todesarten, die man sich überhaupt nur vorstellen kann.

Und nun kommt dieser Hunger aus der Ferne der unterentwickelten Länder hierher nach Europa. 2,2 Millionen Kinder in Spanien sind dank der Austeritätspolitik so stark unterernährt, daß sie permanente Schädigungen davontragen werden. 55% der spanischen Lehrer bringen ihren Schülern Essen mit in die Schule, denn hungrige Kinder können nicht lernen. Und auch in Deutschland gehen Kinder von Hartz-IV-Empfängern schon ohne Frühstück zur Schule. Ziegler schließt: „Das ist ein Mechanismus, der vom Menschen gemacht ist, und vom Menschen gebrochen werden kann. Das Problem könnte morgen früh beendet sein.”

Aber wie?

Die Konferenz des Schiller-Institutes in Flörsheim am darauffolgenden Wochenende präsentierte alles, was nötig ist, um das untergehende, mörderische System sofort durch ein völlig neues Paradigma zu ersetzen. Sicher ist, daß zum jetzigen Zeitpunkt eine korrekte Problemanalyse nicht mehr ausreicht. Lösungen müssen auf die Tagesordnung. Was Jean Ziegler bei seiner Rede in Berlin an konkreten Lösungen vermissen ließ, macht er jedoch durch seinen Mut und seinen Kampfgeist wett! Weiter so, Herr Ziegler! Alle anderen täten gut daran, sich eine Scheibe davon abzuschneiden.

—-

Autor: Stefan Tolksdorf
Quelle: Neue Solidarität vom 05. Dezember 2012, Nr. 49

Die Veröffentlichung des Artikels auf dieser Seite erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Herrn Alexander Hartmann, Chefredakteur von Neue Solidarität.