ethecon Stiftung Ethik & Ökonomie gratuliert Jean Ziegler herzlichst zu seinem 90. Geburtstag! Für seine herausragende Leistung menschlicher Ethik zeichnete ethecon Jean Ziegler bereits 2012 mit dem Internationalen ethecon Blue Planet Award 2012 aus.
In der Begründung heißt es: „ethecon sieht in Jean Zieglers Einsatz gegen Hunger, Ausbeutung und Unterdrückung, in seinem Bemühen gegen Unterdrückung und Profitgier, in seinem Kampf gegen Konzerndiktatur und Kapitalmacht, in seinem anhaltenden Engagement für Menschlichkeit und Gerechtigkeit sowie in seinem Streben, gerade den Menschen aus den Entwicklungsländern eine Stimme zu verleihen, einen ethisch überragenden Beitrag zu Rettung und Erhalt unseres „Blauen Planeten“.“
Die Laudatio auf Jean Ziegler hielt damals unser Zustifter Prof. Dr. Hans See. Und wie 2012 wollen wir ihn auch zu Jean Zieglers 90. Geburtstag zu wort kommen lassen und veröffentlichen daher hier seine Hommage an ihn:
Jean Ziegler zum 90 sten Geburtstag – eine Hommage
Es ist eine große Herausforderung, einem Menschen zum 90sten Geburtstag zu gratulieren, sein Leben und Lebenswerk zu würdigen, ohne bei Leserinnen und Lesern den Eindruck zu hinterlassen, es handele sich um einen vorgezogenen Nachruf. Denn ein Nachruf ist diese Hommage auf Jean Ziegler nicht. Er ist nur ein Vierteljahr älter als ich und sein Kampfgeist brennt noch immer lichterloh.
Manch einen Jugendlichen lässt der „Rebell“ sehr alt aussehen. Jean Ziegler, dessen Bücher, Aufsätze und Interviews ich seit einem halben Jahrhundert gründlich lese, dessen Fernsehauftritte wie auch die teils gehässigen Filme, die in TV-Kultursendungen wie „Titel, Thesen, Temperamente“ über ihn gezeigt werden, habe ich 1991 erstmals in Genf persönlich getroffen, um ihn über die Gründung der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control zu informieren und um Mitarbeit zu bitten. Er war sofort bereit. Danach traf ich ihn immer wieder auf Veranstaltungen oder Kongressen, auch mehrfach privat, von Mails und Telefongesprächen abgesehen. Ich habe selten einen so warmherzigen Menschen kennengelernt.
Aber er ist ein harter Kämpfer, vor allem, wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht. Hier ein Beispiel: Als der Ostblock zusammengebrochen war, Ende August 1991, schrieb ein anonymer Passant mit Pinsel und weißer Farbe an das Moskauer Marx-Denkmal: „Proletarier aller Länder, vergebt mir.“ Kurz darauf erschien in Frankreich, ein Jahr später auch in Deutschland, Jean Zieglers Buch: „Marx, wir brauchen Dich – Warum man die Welt verändern muss“. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe nimmt Ziegler Marx in Schutz: „Der anonyme Passant irrt.“ Marx muss sich für Lenin, Stalin und die ganze russische Revolution ebenso wenig entschuldigen wie die Evangelisten für die spanische Inquisition und das, was die Christen beim Aufbau ihrer Kolonialreiche an Verbrechen begingen.
Den Zusammenbruch des kommunistischen Weltreichs vor Augen, sah Ziegler die Bestätigung seiner schon lange vorher geübten Kritik an diesem Sowjetsystem. Es hat zwar manches erreicht und verbessert, aber die in diesem System begangenen Verbrechen haben mit Marx und dessen Vorstellungen von einer kommunistischen Welt so gut wie nichts zu tun. Er bestreitet, dass die kommunistische Parteidiktatur von Marx gerechtfertigt worden wäre, dass Honecker, Hoffmann, Wolf, die anfangs noch kämpferische Idealisten waren wie die meisten anderen Kommunisten, Politik im Sinne des von Marx vertretenen Kommunismus gemacht haben. Ziegler bezweifelt sogar, dass sie, auch wenn sie sich immer wieder auf Marx beriefen, ihn jemals richtig verstanden haben. Marx war aus Zieglers Sicht eben kein Lenin, kein Mao, sondern ein Erbe der Französischen, der republikanischen Revolution.
Dass Ziegler im Augenblick dieses welthistorischen Ereignisses es für den Imperativ unserer Epoche erklärte, Marx vor denen zu verteidigen, die den Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums nutzten, ihn auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, gehört aus meiner Sicht zu den zwar kaum beachteten, aber größten Wagnissen eines linken Intellektuellen dieser Umbruchzeit. Das war Zivilcourage auf Weltniveau. Jean Ziegler setzte damals allerdings noch auf die in der Opposition verharrende Sozialdemokratie. Er schrieb: „Würde sie zu einem luziden Marxismus des Widerstands, so wie ihn ihr Gründer August Bebel praktiziert hat, zurückfinden, würde sich das Schicksal unseres Kontinents zum Guten wenden.“
Ich muss an dieser Stelle nicht daran erinnern, man hat es ja täglich vor Augen, was aus der SPD Bebels, zunächst unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, jetzt unter Olaf Scholz, geworden ist. Ziegler hätte heute das Recht zu sagen: Hab ich es nicht gesagt? Die SPD hat ihre große Chance verpasst. Ich, derselbe Jahrgang wie Ziegler, ein halbes Jahr verängstigtes Mitglied der Hitlerjugend, 12 Jahre Werkzeugmacher, Gewerkschafter der IG-Metall, danach Studium bei Adorno, Carlo Schmid, Werner Hofmann, promoviert bei Abendroth, habe 45 Jahre meines Lebens durch beharrliche innerparteiliche Opposition versucht, diese vorhersehbare Abwärtsentwicklung der SPD abzuwenden. 2006 habe ich aufgegeben.
Ziegler gehört zu jenen, die in ihrer Jugend nicht links waren und dennoch ein Herz hatten. Er gehört aber auch zu den Wenigen, die, erwachsen geworden und zu Verstand gekommen, ihr Herz behielten und immer deutlicher nach links rückten. Seine gutbürgerliche Herkunft aus dem calvinistischen Thun legte das bildungsbürgerliche Fundament seines Linksseins, auch seines Gedankenradikalismus. Er war in jungen Jahren schon rebellisch und aufgeladen mit einem explosiven Gerechtigkeitssinn, aber eher konservativ, noch hinreichend angepasst und auch anpassungswillig. So wollte er zur Armee, wurde aber ausgemustert und soll darüber bitter enttäuscht gewesen sein.
Nach einem abenteuerlichen Studium der Juristerei und Soziologie, nach den Universitäten Bern und Genf studierte er in Paris und New York. Auf dem Rückweg von dort machte er einem Abstecher nach Kuba, wo er Che Guevara kennenlernte, von dem damals kaum ein Europäer gehört hatte. Dann ging Ziegler als Assistent eines UNO-Sonderberichterstatters zu einem längeren Aufenthalt nach Zaire, in das ehemalige Belgisch-Kongo, wo er entsetzliche Brutalitäten erlebte. Ich empfehle seinen einzigen Roman zu lesen. Titel: „Das Gold von Maniema“. Darin hat er seine dramatischen Erlebnisse realitätsnah nacherzählt.
Später wurde Ziegler Mitglied der Schweizer Sozialdemokratie und war jahrelang als ihr Abgeordneter im Bundesparlament. Man lese dazu im Buch seines Genossen und Kollegen Helmut Hubacher „Tatort Bundeshaus“ (Bern 1995) das Kapitel über Jean Ziegler, Dann weiß man, dass er ein Mensch war und ist, den die politische Rechte hasste, die Linke liebte, auch wenn er sie gelegentlich überstrapazierte, frustrierte und schockierte und seine Fraktion, als ihn die beleidigten „Geier“ des Bankenbanditismus verklagten, mit der verhängnisvollen Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität bestrafte.
Viele marxistische Linke, anfangs auch mich, irritierte Ziegler, als er öffentlich bekannte: „Ich bin Kommunist und glaube an Gott“. Dieser Themenkomplex, der in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung eine zentrale Rolle spielte und noch immer spielt, wurde von Linken, die sich auf den Hauptwiderspruch, den zwischen Kapital und Arbeit konzentrierten, immer als „Nebenwiderspruch“ abgetan. Als ob das nicht schon falsch genug gewesen wäre, wurde von den Linken, auch noch begründet mit einem falschen Marx-Zitat, dass nämlich „Religion Opium für das Volk“ sei, nicht nur die antisozialistische Kirchenpolitik und das Kapital, sondern auch der Glaube der Massen an einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod bekämpft.
Diesen Glauben hat Marx jedoch sehr ernst genommen. Er schrieb: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“
Eine derart einfühlsame Definition der religiösen Gefühle und Bedürfnisse des Menschen bietet weder Christen Grund zur Sozialisten- und zur Kommunistenjagd, noch liefert es Sozialisten und Kommunisten Gründe, Christen wegen ihres Glaubens zu verfolgen. Jedenfalls kann Karl Marx, der mit dieser empathischen Erklärung der Religion vor allem beabsichtigte, die alte, von bürgerlichen Aufklärern in die Welt gesetzte „Priestertrugtheorie“ zu widerlegen, nicht für die Feindschaft zwischen gottgläubigen Christen und gottlosen Kommunisten verantwortlich gemacht werden. Kirchen- und Parteichristentum erhoben das Kapital zu ihrem Gott und formierten sich zu einer antikommunistischen Avantgarde gegen Marx, gegen die marxistischen Arbeiterbewegung und alle, die das herrschende Elend mit der täglich – auch ohne marxistische Theorie – erfahrbaren und auch erkennbaren Tatsache erklärten, dass die Zwänge des kapitalistischen Systems nicht nur einen nie dagewesenen Reichtum, sondern auch durch rigorose Ausbeutung Hunger und weltweites Elend verursachen. Das berechtigt Ziegler, von einer „kannibalischen Weltordnung“ zu sprechen.
Wer für diesen Kapital-Kannibalismus das Privateigentum an Produktionsmittel verantwortlich macht, Enteignung oder qualifizierte Mitbestimmungsrechte der abhängig Beschäftigten oder gar des Staates, also eine Ausweitung der bestehenden Staatsdemokratie zu einer wirksamen Wirtschaftsdemokratie fordert, wird – obgleich die bundesdeutsche Verfassung dies nicht hergibt – wie ein Verfassungsfeind behandelt. Verfassungsfeindlich ist es aber, dass ab einem bestimmten Entwicklungspunkt der Kapitalkonzentration die demokratiefreie Privatwirtschaft sich demokratisch legitimierte Staaten unterwirft, dass immer mehr Staatsfunktionen zur privaten Bereicherung preisgegeben werden, dass die kapitaldemokratischen Staaten insgesamt tendenziell privatisiert und kommerzialisiert, also auch entdemokratisiert werden, dass sich ein planetarisches Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungskartell etabliert, das Staatsgewalt für private Interessen reicher Minderheiten instrumentalisiert. Wer diese Entwicklung bekämpft, bekommt es nach wie vor auch mit der Kirche zu tun, die demnach ja keine Kirche der Armen, auch keine „Kirche von unten“ ist, wie sie von sich behauptet und viele glauben, sondern – trotz ihrer caritativen und diakonischen Leistungen – nach wie vor eine Kirche der Reichen und der Superreichen.
Es besteht also nicht der geringste Zweifel, dass die Kirchenoberen für den inhumanen, erbarmungslosen, ich sage, „moralisch gottlosen“, Vernichtungskampf gegen den revolutionären Marxismus und den aus ihm abgeleiteten „wissenschaftlichen Sozialismus“, und dies nicht nur, weil er sich zu einem „gottlosen“ Sozialismus und Kommunismus bekannte, die volle Verantwortung tragen. Ich habe die Zeiten erlebt, in denen Kirchen Hitler zu einem zweiten Messias hochstilisierten, und bin, seit ich erstmals wählen durfte, weder Christ noch Kommunist. Aber ich bin noch Kirchensteuerzahler, weil ich die Sozialarbeit der Kirchen vor Ort unterstützen möchte. Es war Mitten im Kalten Krieg, als der drohende Mauerbau die westdeutschen Politiker zwang, ihre eigenen Bildungsreserven auszuschöpfen, weil absehbar war, dass der Zustrom von qualifizierten Arbeitskräften aus der „DDR“, die man mit Anführungszeichen schreiben musste, demnächst von Walter Ulbricht gestoppt würde.
Jetzt hatte ich als Arbeiter die Chance, das Abitur nachzuholen und zu studieren, mich endlich als Sozialwissenschaftler beruflich mit gesellschaftlichen Problemen und Konflikten zu befassen, also auch mit dem damals besonders aggresiven Kampf der Partei- und Kirchenchristen gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. Dem Verhältnis von Kirchen und Kapital auf der einen, Kirchen und Kommunismus auf der anderen Seite habe ich immer höchste Aufmerksamkeit geschenkt. In meinem Buch: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, habe ich diesem Thema unter dem Aspekt „Wirtschaftsverbrechen“ mehrere Kapitel gewidmet.
Auch mit dem protestantischen Pfarrer Erwin Eckert habe ich mich intensiv befasst, dessen Leben und Werk Friedrich Martin Balzer dem Vergessen entrissen hat. Eckert wurde 1931 aktives Mitglied der KPD und hielt an seinem Glauben fest. Ein großes Thema, dass von einer sich erneuernden Linken unbedingt aufgearbeitet werden muss. Ebenso bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung, die vom polnischen Papst Johannes Paul II. zerschlagen wurde. Zieglers „Liebeskommunismus“ (ich verwende hier einen Begriff Max Webers, den er für das Urchristentum erfand), veranlasste mich, der Frage nachzugehen, ob dieses ursprüngliche Christentum nicht doch eine urkommunistische Form der Kritik an den Eigentumsverhältnissen der herodischen Epoche und der Besatzungspolitik des Imperium Romanum war. Ich sammle dazu, angeregt durch Ziegler, seit ein paar Jahren Material und hoffe, dass ich irgendwann die Zeit finde, es noch gründlicher auszuwerten.
Aber Ziegler, der sich Kommunist nennt und an Gott glaubt, ist immer noch, wenn auch ein kritischer, Sozialdemokrat. In seinem Buch über Marx findet man Sätze wie diese: „Was nützen heute noch jene Intellektuelle, die ihr Wissen und ihre Intelligenz einst in den Dienst der sozialdemokratischen und sozialistischen Bewegung gestellt hatten? Sie haben ihre einstigen geistigen Vorbilder – allen voran Marx – derart verunglimpft, dass sie heute den eigenen Verlust ihres Ansehens erfahren müssen.“ Das ist noch immer aktuell – es kommt aber noch schlimmer. „Ihre Fähigkeit, eine Diskussion zu entfachen und frische Anstöße für eine neue Bewertung der Welt zu geben, ist gleich Null. Dies hat zu einem gewissen Weltschmerz geführt, einer gewissen Verdrossenheit, die durchaus Ähnlichkeit hat mit dem Gefühl der Verbitterung der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts endgültig von der Macht ausgeschlossenen Aristokratie.“
Mit Blick auf die französische Linke meinte Ziegler damals, dass die Intellektuellen (unmittelbar nach dem Ende der bipolaren Weltordnung – HS) der Mitte zustreben, das „Verblassen der Dinge“, die „Ära der Leere“ verherrlichen, ja so tun, als ob dieser allgemeine Zerfall „die höchste Stufe der Demokratie“ darstelle. Das traf auch Teile der deutschen Intellektuellen, trifft sie besonders heute, da doch auch hier die Linke im Nichts, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden droht. Ziegler propagierte dagegen sein Marx-Verständnis, als er schrieb: „Glücklicherweise kennt der Marxismus des Widerstands mehr als nur einen Schachzug, und auf den Trümmern dieses politischen und wirtschaftlichen Verfalls nimmt er uns in die Pflicht, immer wieder von neuem aufzubauen.“
Der Text erschien in Deutschland 1992. Da hatte ich schon mit diesem Neuaufbau begonnen und im März 1991 in der damaligen „Atomskandalstadt“ Hanau die Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control (BCC) gegründet. Danach hatte ich Jean Ziegler in Genf besucht, um ihm über die BCC-Gründung zu berichten und ihn zu bitten, unsere neue linke Aufklärungsorganisation zu unterstützen. Auf eine Formel gebracht, ging und geht es noch heute darum, für eine kriminalpräventive Wirtschaftsdemokratie zu kämpfen, statt Zeit und Kräfte für ein wirkungsloses Strafrecht gegen Korruption, Geldwäsche und Wirtschaftskriminalität zu verschwenden. Ziegler war – ohne sich dessen bewusst zu sein – ein wichtiger Initiator der BCC-Gründung.
Auch Eckart Spoo setzte damals auf einen Neuanfang. Nachdem er an unserem ersten großen Kongress über Wirtschaftsverbrechen in Frankfurt am Main teilgenommen und mich zu einem Vortrag über die „Geldmacht Deutschland“ nach Hannover eingeladen hatte, wurden wir enge Freunde. Mir wurde klar, dass auch Eckart Spoo zu denen gehörte, die – ähnlich wie Ziegler – auf die radikaldemokratischen Anfänge der bürgerlichen Revolutionen, zum Beispiel auf Freiherrn von Knigge, aber auch auf Carl von Ossietzky setzten. Es ging zunächst einmal nur darum, das linke geistige Erbgut vor denen zu retten, deren abgrundtief unanständiges Marxismus-Bashing, eine Übersteigerung des bis zum Mauerfall alltäglichen christlichen Antikommunismus, zu jener fatalen Entwicklung den Treibstoff lieferte, die inzwischen sogar von den Antikommunisten selbst als Bedrohung empfunden und – wenn auch noch halbherzig – bekämpft wird.
Spoo und sein Freundeskreis zeigten sich damals sehr besorgt darüber, dass das vereinigte Deutschland – ob es wolle oder nicht – in absehbarer Zeit wieder eine Weltmacht werde. Die Vorträge dieser Veranstaltungsreihe sind heute aktueller als damals. Sie erschienen unter der Überschrift: „Weltmacht Deutschland?“ (1996 im Donat Verlag). Ein Jahr nach Erscheinen dieses von Dietrich Heimann, Eckart Spoo und anderen herausgegebenen Büchleins, gründete Eckart Spoo die Zeitschrift „Ossietzky“. Ich darf hier also in Dankbarkeit festhalten, dass Jean Ziegler an der Gründung von Business Crime Control unmittelbar, vermittelt über mich auch ideell an der Gründung des Ossietzky mitgewirkt hat. Dafür und für seine langjährige Freundschaft möchte ich ihm ganz herzlich danken und ihm wünschen, dass die inzwischen – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und vielen Teilen der Welt – in eine schwere Krise geratene Linke sich stärker mit Zieglers „Marxismus des Widerstands“ befasst und bald wieder so stark wird, dass sie wenigsten die schlimmsten Konsequenzen der heutigen Globalkapitalpolitik verhindern kann.
Mit seinen Büchern und undogmatischen Zugängen zum postkommunistisch-globalen Finanzkapitalismus, den er als „kannibalische Weltordnung“ qualifiziert, hat Ziegler Ansätze entwickelt, die zeigen, dass und wie die bisher immer wieder Besiegten am Ende doch mehr als nur moralische Siege davontragen können. Um zu diesen Siegen beizutragen, muss sich die europäische Linke allerdings völlig neu orientieren. Eine Beschäftigung mit Zieglers methodischem Ansatz, er beschreibt ihn mit einem Ausdruck von Georges Balandier als „generative Soziologie“, könnte zur Überwindung der ideologischen Hindernisse, die Regenerationsversuchen linker Gesellschaftsanalyse und dem Erarbeiten einer neuen Stufe marxistischer Kritik der politischen Ökonomie im Weg stehen, von großem Nutzen sein. Ich selbst habe diesen Ansatz dazu genutzt, eine Kritik der Theorie und Praxis der kriminellen Ökonomie – sozusagen ein Erweiterungsbau der Kritik der politischen Ökonomie des klassischen Marxismus – vor allem durch Anregungen der von Ziegler favorisierten generativen Soziologie zu entwickeln.
Diese besonders in Frankreich heimische Soziologie hat viele Vorzüge vor den oft allzu routinierten und mechanisierten empirischen Methoden der US-Forschung, die in Deutschland Mainstream ist. Vor allem aber hat sie den Vorteil, dass sie den Hass auf den Westen erzeugenden Eurozentrismus jederzeit verlassen, dass sie die ausbeuterische Zerstörung der Welt des so genannten globalen Südens durch Landgrabbing, Ressourcenraub und totale Überschuldung, Armut und Migration verursachende Entwicklungspolitik ohne Scheuklappen in ihre Forschung einbeziehen kann und niemals den Eindruck zu erwecken versucht, völlig neutral zu sein.
Und noch ein letzter Aspekt: Zieglers traumwandlerischer Tanz über den schmalen Grat der Hoffnung. Er ist faszinierend, mitreißend, ansteckend. Ich zitiere nur einen Satz aus dem letzten Kapitel seines nach meiner Meinung als Lebens- und Erfahrungsbilanz verfassten Buches: „Ändere die Welt – Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (München 2015) Das Kapitel beginnt mit dem Satz: „Gegen die weltweite Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, ihrer Satrapen und Söldner, erhebt sich heute ein neues geschichtliches Subjekt: die weltweite Zivilgesellschaft.“ Und wer sich nichts Konkretes darunter vorstellen kann, lese den Teil IV seines 2002 bei Bertelsmann erschienen Buches „Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher“. Unter Punkt 3. „Die Fronten des Widerstands“ sind die damaligen Widersacher aufgelistet. Und es dürfte eines seiner schönsten Geschenke zu seinem 90sten Geburtstag sein, dass sich diese Widersacher, meist als Nichtregierungsorganisationen, seitdem nicht nur stark vermehrt, sondern auch radikalisiert und seinen Ideen angenähert haben.
Hans See (19. April 2024)