Diskussionsbeitrag zum Corona-Notstand

ethecon fordert:
ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitssystem
und einen Umbau der Wirtschaft!

Überarbeitet am 30. Juni 2020

Auch nach vier Monaten stellt die Corona-Epidemie unsere Welt noch immer auf den Kopf. Unsere Stiftung trägt den Namen „Ethik & Ökonomie“. Entsprechend fühlen wir uns aufgefordert, uns im Hinblick auf Corona zu einigen Fragen im Spannungsfeld Ethik und Ökonomie zu Wort zu melden. Seit der ersten Veröffentlichung dieser Erklärung am 26. März 2020 stritten ethecon-Aktive auf der Straße, an Arbeitsplätzen und in der internationalen Bündnisarbeit für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitssystem und diskutierten mit Kolleg*innen aus aller Welt. Im Folgenden wollen wir diese Erklärung zu aktualisieren.

Die Epidemie

Aktuell steigt die Zahl der Infektionen weltweit erneut an, besonders in Latein-Amerika. Rund 10 Millionen Infektionen wurden weltweit gezählt, rund eine halbe Millionen Menschen starben mit oder an dem Virus. Die inzwischen übliche Ergänzung „mit oder an dem Virus“ trägt dem Umstand Rechnung, dass genaue Todesursachen selten eindeutig belegt werden können. Zweifel an der Gefährlichkeit der Krankheit selbst sollte es keine mehr geben. Die weltweite Übersterblichkeit spricht eine deutliche Sprache. Wir befinden uns mitten in einer Gesundheitskrise, bei der die Gefahr der Corona-Epidemie noch durch das grassierende Dengue-Fieber, Cholera und den sich ausbreitenden Hunger verstärkt wird.

Betroffen sind vor Allem alte, kranke und arme Menschen: Obdachlose auf den Straßen der USA etwa, Slum-Bewohner*innen in Brasilien oder Indien, aber auch Bewohner*innen von Altenheimen in Florida oder Deutschland. Und natürlich das Klinik-Personal, die Kolleg*innen in der Altenpflege etc. Vor Allem also solche Menschen, deren Leben in den Augen der Politik wenig zählen und deren Stimmen selten gehört werden. Das wurde auch an Aussagen wie denen von Boris Palmer deutlich, der den massenhaften Tod von Alten und Kranken zugunsten der Wirtschaft für akzeptabel hielt.

Der Notstand

Weder dürfen wir durch Leichtsinnigkeit die Ausbreitung des Virus verstärken, noch dürfen wir die Skrupellosigkeit der Konzerne und ihrer Regierungen unterschätzen. Die Corona-Maßnahmen sind ganz unterschiedlich zu bewerten. Ein kurzer Blick in die Geschichte lehrt uns: In jeder Krise haben die Reichen und Mächtigen sich darum bemüht, ihre Macht und ihren Reichtum auszubauen. Das ist auch in einer Epidemie nicht anders.

Für die Profite nehmen viele Chefs die Erkrankungen ihrer Arbeiter*innen in Kauf. Der Fleisch-Baron Tönnies ließ weiter produzieren, obwohl die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und Unterbringungen der Wanderarbeiter*innen nun besonders gefährlich wurden. Und selbst wenn sich schließlich ein Betrieb zu einem Infektionsherd entwickelt und geschlossen werden muss, spielen Unternehmerverbände die Gefahr herunter. Elon Musk, CEO von Elektroauto-Konzern TESLA, drohte gar dem Bundesstaat Kalifornien mit der Verlagerung der Produktion, weil er sich durch Epidemie-bedingte Werksschließungen um seine Profite und nicht um das Leben seiner Mitarbeiter bangte. In Texas brachte der Vize-Gouverneur diesen Zynismus auf den Punkt: Alte Menschen sollten bereit sein für die Wirtschaft zu sterben. Solchen Angriffen wiedersetzen sich Arbeiter*innen und solidarische Menschen weltweit, indem sie auf Gesundheitsschutz zu Lasten von Profit-Interessen beharren.

Gleichzeitig nutzen Konzerne und Staatsmacht auch immer wieder die Epidemie auf eine andere Art für ihre Interessen aus: Sie geben vor im Kampf gegen die Infektionen „Schutzmaßnahmen“ zu treffen, die ihre Macht ausbauen oder die Rechte von Arbeiter*innen oder Protestierenden beschneiden. Etwa mit Demonstrationsverboten, Notstandsgesetzen, oder der Aushebelung betrieblicher Mitbestimmung. Oder auch mit dem neuen Aktionärsrecht, dass von Konzernen mitgeschrieben wurde und es ihnen erlaubt im Rahmen von Online-Hauptversammlungen Kritiker auszuschließen und kritische Aktionäre mundtot zu machen.

Noch offensichtlicher dienen die „Rettungspakete“ den Konzernen: Ihnen werden in Deutschland „unbegrenzt“ Finanzmittel zum „Ausgleich“ bereitgestellt, während kleine Unternehmen, Mini-Jobber und Freischaffende stehen alleine dastehen. Die Kurzarbeit ist ebenfalls eine Umverteilung zuungunsten der Kolleg*innen. Immer größere Massenentlassungen werden dennoch angekündigt. Und während die Konzerne entschädigt werden und Devisen an ihre Aktionäre ausschütten, stehen für die meisten Leute keine ausgleichenden Zahlungen zur Verfügung.

Wachsamkeit und Solidarität

Es bleibt bei unserem Aufruf: Seien wir wachsam und solidarisch. Lassen wir vor allem die betroffenen Berufsgruppen nicht allein, die nun vor dem Aus stehen. Unterstützen wir auch die Forderungen der Arbeiter*innen der Pflege- und Liefer-Dienste, auf deren Knochen die Krise im wahrsten Sinne des Wortes geht!
Nachdem Krankenhäuser und Pflege-Belegschaften jahrelang kaputt gespart wurden, wird das Chaos nun höheren Mächten in die Schuhe geschoben. Doch Pfleger und Krankenschwestern gab es auch vor der Corona-Welle zu wenige. Mehr als Dankbarkeit brauchen die Krankenschwestern eine angemessene Bezahlung, sichere Arbeitsbedingungen und Unterstützung für ihre Familien, die Verstaatlichung von relevanten Pharma-Bereichen, die Inbetriebnahme stillgelegter Kliniken, Neueinstellungen von Kolleg*innen. Das wird auch das Thema der diesjährigen ethecon Preisverleihungen am 21.11. sein.

Einer Umverteilung zugunsten der Konzerne müssen wir eine entschiedene Absage erteilen! Wir schließen uns deshalb den Forderungen von attac an:

  • staatliche Sofort-Direktinvestitionen in Milliardenhöhe in öffentliche Gesundheitseinrichtungen zur Notfallbewältigung!
    • ein Investitionsprogramm für den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft, insbesondere und dringend für den Ausbau eines auf flächendeckende Versorgung ausgerichteten Gesundheitswesens!
    • Einkommenssicherung für Arbeitnehmer*innen bei Arbeitsausfall!
    • Einkommenssicherung für Arbeitnehmer*innen bei Arbeitszeitreduzierung wegen Kinderbetreuung!
    • Überbrückungskredite für Selbständige und kleine Unternehmen, die mit Liefer- oder Absatzschwierigkeiten kämpfen!
    • die Finanzierung dieser Aktivitäten mittels Krediten durch temporäre Erhöhung der Verschuldung und deren Begleichung durch effektive Besteuerung von Vermögen, gerechter Unternehmensbesteuerung und Verhinderung von Steuerflucht und Steuervermeidung!

Keine Panik!

Besonders die Gefährdeten unter uns – das heißt besonders die älteren und/oder vorerkrankten Menschen – müssen wir in solchen Zeiten durch kollektive Vorsicht unterstützen. Solidarität muss immer unser oberstes Gebot bleiben. Das Schüren von Angst und Panik, wie sie momentan betrieben wird, richtet sich neben allem oben bereits genannten vor allem gegen die Solidarität und das gemeinsame Handeln.
Vor dem Hintergrund des drohenden Kollaps der Weltwirtschaft, einer Hungers-Katastrophe, voranschreitendem Klima-Chaos, brutaler Bekämpfung von Flüchtenden, drohender Weltkriegsgefahr und angestrebter Neuordnung der Welt im Interesse der Maximal-Profite ist die Corona-Pandemie weltweit bereits zum Experimentier-Labor autoritärer Maßnahmen geworden.
Vergessen wir nicht: Verantwortlich für die immer verheerenderen Epidemien sind gerade die Pharma- und Agrarindustrie sowie die Privatisierung und Zerstörung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge.
Und nicht zuletzt das Militär. In den vergangenen Jahren ist es den herrschenden sehr gut gelungen, die Konzepte und Entwicklungen von ABC-Waffen aus dem öffentlichen Interesse zu verdrängen (ABC steht für „atomar“, „biologisch“, „chemisch“). Was aber keineswegs heißt, dass die Forschung und Erprobung solcher Waffen nicht existieren würde.

Die Epidemie zeigt einmal mehr, wie Profite über Menschenleben gestellt werden. Und wie wichtig unabhängige Konzern-Kritik ist. Auch uns macht die Corona-Epidemie zu schaffen. Die Spenden gehen zurück, wir haben Kosten, weil Projekte stoppen und umorganisieren müssen. Und für unbequeme Organisationen wie uns sind keine „Rettungstöpfe“ bereitgestellt. Wir brauchen Ihre Spende, besser noch Ihre Fördermitgliedschaft.

Mit solidarischen Grüßen
Niklas Hoves
ethecon Stiftung Ethik & Ökonomie
www.ethecon.org / info@ethecon.org