Zeitenwende
Den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 deklarierte Bundeskanzler Scholz drei Tage später als „Zeitenwende“. Scholz mahnte, erstmals seit dem Ende des Faschismus 1945 sei ein völkerrechtswidriger Krieg nach Europa zurückgekehrt, das mache die „Zeitenwende“ aus. Das ist nicht ganz richtig. Erstmals ist der Krieg 1999 nach Europa zurückgekehrt, als die NATO unter Beteiligung Deutschlands völkerrechtswidrig – wie der damalige Bundeskanzler Schröder später eingestand – Jugoslawien mit Krieg überzog. Neu an dem russischen Krieg gegen die Ukraine ist, das erstmals seit 1945 das westliche Bündnis sich über die Ukraine direkt angegriffen fühlt. Erstmals der Angegriffene zu sein, das ist im Kern das, was die NATO-Staaten so ungemein empört.
Zum Krieg selbst zitieren wir den ehemaligen CIA-Mitarbeiter Graham E. Fuller. Er war vor seiner Pensionierung Vizepräsident des „National Intelligence Council at CIA“, zuständig für die geheimdienstliche Beurteilung der globalen Situation.
Der Krieg in der Ukraine hat sich nun lange genug hingezogen, um erste klare Tendenzen zu erkennen.
Zuerst zwei grundlegende Tatsachen:
- Putin ist dafür zu verurteilen, dass er diesen Krieg angezettelt hat – wie praktisch jeder Führer, der einen Krieg anzettelt. Putin kann als Kriegsverbrecher bezeichnet werden – in guter Gesellschaft mit George W. Bush, der allerdings weitaus mehr Menschen getötet hat als Putin.
- Eine zweite Verurteilung gebührt den USA (NATO), die absichtlich einen Krieg mit Russland provoziert haben, indem sie ihre feindselige militärische Organisation trotz Moskaus wiederholter Warnungen vor der Überschreitung roter Linien unerbittlich bis vor die Tore Russlands getrieben haben. Dieser Krieg hätte nicht sein müssen, wenn die ukrainische Neutralität nach dem Vorbild von Finnland oder Österreich akzeptiert worden wäre. Stattdessen hat Washington zu einer klaren russischen Niederlage aufgerufen. (19. Juni 2022, https://grahamefuller.com/some-hard-thoughts-about-post-ukraine
Mit E. Fuller betrachtet also ein absoluter Insider der internationalen Politik die völkerrechtswidrige Aggression gegen die Ukraine quasi als Quittung für den Westen für eine jahrzehntelange systematische Missachtung russischer Sicherheitsinteressen in Europa.
Die Antworten des Westens fielen äußerst aggressiv aus und umfassen NATO-Erweiterung, Aufrüstung an den Ostgrenzen, Forcierung von Rüstungsprogrammen, Waffenlieferungen und Sanktionen gegen russische Institutionen und Oligarchen. Viele dieser Maßnahmen, insbesondere die Energiesanktionen, schaden allerdings der eigenen Bevölkerung mehr als Russland. Um dennoch Zustimmung zu diesem Konfrontationskurs zu erhalten, wird auch vor Vernichtungshetze „Russland ruinieren“ nicht zurückgeschreckt. Wiederum wüten antislawische Schreckgespenster mit asiatischem Aussehen. So wie heute sei es auch „damals“ gewesen, „als Dschingis Khans tatarisch-mongolische Horden das Gebiet der Ukraine angriffen […] Nun treibt die Invasion der russischen Horden erneut Ukrainer nach Westen.“ (FAZ, 10. Mai 2022)
In der Bundesreplik wurde ein beispielloses Programm aufgelegt, um auf Schuldenbasis sagenhafte 100 Milliarden EURO direkt in die Bundeswehr zu pumpen. Allerdings zeigt sich nun, das eine Hurra-Kriegsstimmung so einfach nicht herzustellen ist, eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung lehnt Waffenlieferungen und eine Fortsetzung des Krieges ab.
Werte und Moral
Die Beteiligung Deutschlands am Ukraine-Krieg mit Sanktionen und Waffenlieferungen werden mit Artikel 51 der UN-Charta, das Recht auf Selbstverteidigung begründet. Ethecon als „Stiftung Ethik & Ökonomie“ nimmt die Schutz der UN-Charta, einschließlich dem Recht auf Selbstverteidigung, durchaus ernst. Der Artikel in vollem Wortlaut:
Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.
Das Wesentliche an diesem Artikel ist das Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens. Selbstverteidigung darf nicht beliebig fortgeführt werden, das Zepter des Handelns muss an den Weltsicherheitsrat übergeben werden. Auch wenn dieser mit Russland als Kriegspartei faktisch blockiert ist, bleibt die Zielstellung einer möglichst raschen Wiederherstellung des Friedens erhalten. Dieses Ziel haben die kriegsverlängernden Waffenlieferungen aus den Augen verloren. Das Völkerrecht wird vom Westen funktionalisiert, es geht nicht um dessen Durchsetzung.
Das kann auch nicht verwundern. Der Forschungsdienst des US-Kongresses hat im September eine Studie veröffentlicht. Demnach haben die USA haben seit 1991 weltweit 251 militärische Interventionen durchgeführt. Jede Einzelne war ein grober Bruch des Völkerrechts, es waren im Schnitt acht Militärinterventionen pro Jahr! Und nicht ein einziges Mal hat die Bundesregierung das Recht auf Selbstverteidigung in Anschlag gebracht. Nein, die Bundesregierung will den Krieg gegen Russland weiterführen und nicht beenden. Die Vokabel „Vernichtung Russlands“ ist nicht zufällig gefallen. Und über die sogenannte „werteorientierte“ deutsche Politik hat Karlspreisträger Henry Kissinger dieses Jahr geschrieben: „Wem es hauptsächlich um Werte geht, sollte nicht den diplomatischen Dienst, sondern das Priesteramt anstreben.“ Es geht in der internationalen Politik nie, wie Egon Bahr ausführte, um Demokratie oder Menschenrechte. „Es geht um die Interessen der Staaten, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Die sogenannte Werteorientierung des Westens, die im Übrigen nicht die Orientierung auf die vom Westen mehrfach gebrochene UN-Charta meint, entpuppt sich einfach als Propaganda, hinter der die Verfolgung eigener materieller Interessen versteckt wird.
Rüstungsindustrie und Kriegsprofite
Ein großer Gewinner der Zeitenwende, sprich der gewaltigen Hochrüstung und der Waffenlieferungen an die Ukraine ist die Rüstungsindustrie. Ethecon hat schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, „Bei Rheinmetall knallen die Korken: 4 Milliarden Extragewinn!“. Und weiter in unserer Stellungnahme vom 27. Juli 2022:
Auch LOCKHEED, der die atomwaffenfähigen F-35 Jets produziert, freut sich über Aufträge der Bundeswehr. Hier geht es um dutzende Milliarden Euro. Der Marineschiff-Produzent THYSSEN-KRUPP MARINE SYSTEMS ist bereits weit bis in die 2030er ausgebucht. Die weltweite Rüstungs-Industrie boomt in nie gekannter Weise.
Bedeutsamer noch als die unmittelbaren Profite der Rüstungsindustrie hingegen ist ihre Bedeutung für die Durchsetzung eigener machtpolitischer Ambitionen. Erich Vad, lange Jahre militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, fasste den Zusammenhang von Rüstungs- und Machtpolitik so zusammen:
„Auch wenn der Einsatz von Militär und Gewalt eine Ultima Ratio des politischen Handelns bleibt, scheint das Vorhalten modern ausgerüsteter Streitkräfte […] unumgänglich zu sein, um als politischer Akteur auf der internationalen Bühne ernst genommen zu werden. […] Aber braucht es dazu unbedingt eine nationale Rüstungsindustrie? Kann man nicht wesentlich preiswerter und je nach Bedarf Waffen auf dem internationalen Markt kaufen und wäre dann vor allem nicht gezwungen, Waffen zu exportieren, um die heimische Rüstungsindustrie zu erhalten. […] Im Falle des Falles ist nicht sichergestellt, dass ausländische Produzenten liefern, nicht zuletzt auch aus politischen Gründen, die sich ändern können. […] Der eigene sicherheitspolitische Handlungsspielraum ist ohne eine nationale Rüstungsindustrie mit Kernkompetenzen und nationalen Schlüsseltechnologien stark eingeengt. […] In letzter Konsequenz würde man als internationaler sicherheitspolitischer Akteur nicht ernst genommen werden.“ (Erich Vad: Warum es eine nationale Rüstungsindustrie braucht, in Neue Züricher Zeitung 18.4.2019. Zitiert nach Jürgen Wagner, Im Rüstungswahn, Köln 2022)
Im Jahr 2021 betrugen die Verteidigungsausgaben rund 47 Milliarden Euro und erreichten mit knapp 1,5 Prozent des BIP ihren höchsten Stand seit 1999. Wird das Ziel von 2 Prozent des BIP erreicht, übersteigen die deutschen Verteidigungsausgaben bereits die vergleichbaren russischen Ausgaben. Die 100-Milliarden-Sonderschulden für die Bundeswehr und die Fixierung auf das 2 Prozentziel bedienen laut Vad also nicht nur die Interessen der – im Größenvergleich mit anderen Branchen relativ kleinen Rüstungsindustrie –, viel wichtiger noch sind diese Ausgaben als Investitionen des deutschen Staates zur Durchsetzung der eigenen Interessen in den internationalen Beziehungen.
Sind Deutsche Interessen aufgegeben?
„Die Vorherrschaft über den eurasischen Kontinent“ stelle „die entscheidende Grundlage für die Vorherrschaft in der Welt insgesamt“ dar, schrieb einst Zbigniew Brzeziński, Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter in dem geostrategischen Klassiker „The Grand Chessboard“. Die Vorherrschaft einer anderen Macht über Eurasien zu verhindern ist bis heute die zentrale außenpolitische Maxime der ersten Weltmacht. Die USA haben den Ukraine-Krieg genutzt, ihre Interessen gegenüber EU-Europa und damit insbesondere gegen Deutschland durchzusetzen. Das betrifft in wirtschaftlicher Hinsicht ihre Flüssigaslieferungen als Substitut für russisches Erdgas. In geopolitischer und militärstrategischer Hinsicht wurde die Stabilisierung der US-Vorherrschaft in Europa sinnfällig in der Demütigung der Deutscher Politik, als US-Verteidigungsminister Lloyd Austin im September d.J. EU-Militärs nach Ramstein, also auf deutschen Boden, eingeladen hatte und Waffenlieferungen an die Ukraine verlangt und durchgesetzt hatte.
In vielen Medien, ganz besonders aber in neofaschistischen und konservativen Kreisen wird deshalb davon gesprochen, Deutschland habe die Wahrung seiner Interessen aufgegeben und sich den USA untergeordnet. Stimmt das?
Deutsche Weltmachtambitionen sind spätestens seit 1992 mit den „Sicherheitspolitischen Richtlinien“ zentraler Bestandteil deutscher Interessenpolitik. 1997 blies der damalige Bundespräsident zur Aufholjagd („Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten“), die vormalige Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer wollte in diesem Zusammenhang „Mehr Führung wagen“. Das Streben von Politiker:innen aller deutschen Bundesregierungen nach militärischer Führerschaft in Europa ist mehrfach belegt, innerhalb der EU trieb die Bundesregierung auf etlichen EU-Tagungen die Militarisierung der EU und den Ausbau einer EU-Rüstungsindustrie voran.
Bundeskanzler Scholz fasste die deutsche Strategie so zusammen:
Auch künftig werden wir die Zusammenarbeit mit den USA benötigen. Dessen ungeachtet brauchen wir ein starkes und souveränes Europa, auch in der Sicherheitspolitik. Eine bessere Zusammenarbeit in der EU, insbesondere bei Beschaffung und Rüstung, würde unsere militärischen Fähigkeiten steigern. (FAZ 29.8.2021)
Wenn man die angestrebte (militärische) Führerschaft Deutschlands in der EU kennt, läßt sich die zitierte Aussage von Kanzler Scholz so verstehen:
Erst ein starkes und souveränes Europa kann die militärisch Dominanz der USA in Europa brechen. Das wird nur erreichbar sein, wenn wir unsere militärischen Fähigkeiten, insbesondere bei Beschaffung und Rüstung, steigern. (frei nach Scholz, der Autor)
Weil die USA in den letzten Jahren wirtschaftlich von China eingeholt werden, zwingen sie China in einen Wirtschaftskrieg. Der Ausgang ist durchaus ungewiss, eine weitere Schwächung der US-Wirtschaft ist nicht auszuschließen. Genau für diesen Fall hält Deutschland am Konzept der „Multipolarität“ der Weltordnung fest und bereitet sich auf eine „Verantwortungsübernahme“ vor.
Der Verzicht auf russisches Erdgas, die Sanktionen, die weniger reiche Russen als arme Bürger:innen Deutschlands treffen, die horrenden Rüstungsprogramme, kurzum die von Kanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende trägt zwar durchaus der militärischen Dominanz der USA Rechnung, verfolgt aber das eigene strategische Ziele einer Vorherrschaft von Deutschland in Europa.
Und jetzt? Die Waffen Nieder und Friedensverhandlungen
Die jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine scheinen all jene im Westen ermutigt zu haben, die glauben, dass dieser Krieg gewonnen werden kann, dass Russland besiegt und aus allen ukrainischen Gebieten, die es jetzt besetzt hält, vertrieben werden könnte. Der ukrainische Präsident Zelensky spricht von dem einzigen Ziel eines vollständigen militärischen Sieges über Russland. Er fordert einer raschen Aufnahme der Ukraine in die NATO – ein NoGo für Russland. Russland im Gegenzug reagiert mit einer teilweisen militärischen Mobilmachung und verstärkten Angriffen auf zivile ukrainische Infrastruktur. Eine Eskalation bis hin zum Einsatz atomarer Waffen ist nicht ausgeschlossen. Nachdem die NATO unlängst ihr Atomkriegsmanöver „Steadfast Noon“ durchgeführt hat, hielt simulierte auch Russland einen Nuklearwaffeneinsatz, und die USA ziehen die Modernisierung ihrer in Europa stationierten Atomwaffen B61 auf dieses Jahr vor.
Doch der Krieg in der Ukraine ist noch nicht an einen Punkt angelangt, an dem es kein zurück mehr gibt. Das eröffnet Räume für die Diplomatie, die allerdings auch erst genutzt werden wollen.
Im März ‘22 hat ein unkrainisch-russisches Verhandlungsteam einen 15-Punkte-Plan für ein Friedensabkommen erarbeitet, demzufolge die Ukraine keine NATO-Mitgliedschaft anstreben und keiner ausländischen Macht gestatten würde, Militärstützpunkte auf ihrem Hoheitsgebiet zu errichten. Im Gegenzug würden alle russischen Besatzungstruppen abziehen und die Ukraine würde ihre territoriale Integrität weitgehend bewahren. Der Entwurf sah auch Zwischenlösungen für den Donbass und die Krim vor. Man hoffte, dieses Abkommen auf einer Friedenskonferenz am 29. März in Istanbul auf Außenministerebene abschließen zu können. Sowohl ukrainische als auch russische Politiker hatten bereits Hoffnungen auf ein Ende des Krieges geäußert.
Doch dazu kam es nicht. Angesichts der Möglichkeit einer neutralen Ukraine berief die NATO für den 23. März einen Sondergipfel in Brüssel ein, an dem auch US-Präsident Biden teilnahm. Der einzige Zweck dieses Treffens bestand darin, die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden. Anstelle eines Kompromisses zwischen ukrainischer Neutralität und ukrainischer territorialer Integrität forderte die NATO nun den bedingungslosen Rückzug der russischen Streitkräfte aus den ukrainischen Gebieten, bevor es zu Friedensgesprächen kommt.
Ganz anders z.B. äußerte sich die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel, sie argumentierte eindringlich, dass Europa bei seinen Friedensbemühungen das Ziel nicht aus den Augen verlieren dürfe, eine gesamt-europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen.
Frieden für die Ukraine, Frieden mit Russland und Frieden in Europa sind untrennbar miteinander verbunden. Es wird keinen Frieden geben, ohne die Fehler zu korrigieren, die am Ende des Kalten Krieges mit der Erweiterung der NATO (und der EU) bei Ausschluss Russlands gemacht wurden.
Ethecon unterstützt die internationale Friedensbewegung in ihren Bemühungen, über einen sofortigen Waffenstillstand zu Friedensverhandlungen zu gelangen. Wir sehen aber auch den engen Zusammenhang zwischen den Belastungen für die Bevölkerung, den die kapitalistischen Krisen und die Sanktions- und Energiepolitik hervorrufen. Wir schließen uns dem Titel eines Flyer einer gewerkschaftlich orientierten Gruppe an: „Nein zu den Milliarden für den Krieg! Nein zur Preisexplosion und Verteuerung des Lebens! Für die Verteidigung des Reallohns! Für mehr Personal!“